Hannah Arendts Begriff des Bösen in seiner Banalität

Autor: Sirpa K. Weiler | Datum: Sommersemester 2011 | Arbeit: Hausarbeit; Philosophie; 2. Semester | Dozent: Dr. Oliver Müller | Uni: Albert-Ludwigs-Universität Freiburg | Note: 1,0

Vorwort zu Hannah Arendt und dieser Hausarbeit

Diese Hausarbeit beschäftigt sich mit Hannah Arendts Begriff des Bösen in seiner Banalität. Um diese These zu erläutern, ist es notwendig, die historischen Hintergründe zu verstehen, die Hannah Arendt zum Gegenstand ihrer Untersuchung macht. In diesem Bezug wird im Folgenden auch auf ihren Bericht Eichmann in Jerusalem eingegangen, um ihre Ansichten zu verdeutlichen. Um die Person Eichmann als Beispiel für die Banalität des Bösen verstehen zu können, wird zuvor Hannah Arendts Verständnis des Menschen mit seinen Eigenschaften und in Bezug auf seine Moral veranschaulicht. Schlussendlich wird die von ihr gemeinte Banalität des Bösen deutlich an der Normalität des Menschen.

Hannah Arendt lebte von 1906-1975. Auch wenn sie sich selbst nicht als Philosophin sah, ist sie eine der bedeutendsten Gesellschafts- und Politikwissenschaftlerinnen und vor allem eben doch auch -philosophinen. Philosophievorlesungen besuchte sie an der Philipps-Universität in Marburg (v. a. Heidegger), ein Semester lernte sie von Husserl in Freiburg, dann studierte sie selbst an der Uni Heidelberg Philosophie und promovierte 1928 bei Karl Jaspers. 1933 musste sie wegen des Krieges und aufgrund ihrer jüdischen Wurzeln aus Deutschland in die USA fliehen. In Chicago und New York wurde sie eine bekannte Professorin. Sie war die erste Frau, die an Princeton lehrte, veröffentlichte viele Aufsätze und beschäftigte sich vor allem mit dem Totalitarismus (bzgl. Holocaust). Sie ist bedeutende Berichterstatterin des „Eichmann-Prozesses“ in Jerusalem, weswegen sie aus vielen Kreisen durch ihre Sichtweise Kritik einstecken musste, v. a. weil viele Leute noch nicht soweit waren zu sehen, dass es richtig ist, was sie schreibt.

Geschichtliche Aspekte

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Arendts Intension, sich mit dem Bösen moralphilosophisch (neu) auseinanderzusetzen, findet ihren Ursprung im Holocaust des zweiten Weltkrieges. Die dort begangene Judenvernichtung ist nicht nur für Arendt der Inbegriff des Bösen selbst, denn „[das] wirklich Böse ist das, was bei uns sprachloses Entsetzen verursacht, wenn wir nichts anderes mehr sagen können, als: Dies hätte nie geschehen dürfen“ (ÜdB,45). Es handelt sich hierbei um unbegreifliche Verbrechen, die „durch Vergeben oder Bestrafen […] [nicht] wiedergutzumachen“ sind (ÜdB,121).

Auschwitz [ist] das Ergebnis von Tausenden von Schritten, unternommen von gewöhnlichen Menschen, die anders hätten handeln können“ (SN,47). Der verschwindend geringe Prozentsatz von „Fanatikern“ und „Sadisten“ konnten ihrem Begehren nur nachgehen, weil sie „die Unterstützung von Millionen anderen erhalten“ haben. „In Arendts Augen stand […] das Beispiellose des Holocaust zur Verhandlung: ein bürokratisch organisierter Massenmord“ (LWW,98). Es konnten allerdings nur Individuen für ihre individuellen Taten nach dem Krieg strafbar gemacht werden. Doch auch die Summe dieser kann nie das gesamte Ausmaß des Verbrechens strafen. Es gibt jedoch genausowenig eine „Kollektivschuld“ wie eine „Kollektivunschuld„, sonst wäre „niemand je schuldig oder unschuldig“ (EiJ,67). „Das Problem des ‚Bösen‘ ist unlösbar mit dem Ereignis des Holocaust verknüpft“ (ES,139).

Vor diesem war der „Begriff des Bösen [jener], der […] in der Lage war, der Realität der Verbrechen zu entsprechen“ (ES,139). Es ging um „leichte oder schwere ‚Laster‘“ (ES,149), doch für die „Verbrechen bezogen“ auf den „Holocaust“ fehlt die Terminologie (ES,139). Außerdem „lehrte uns [die Philosophie der europäischen Aufklärung] noch, dass hinter Böses erzeugendem Handeln, die schlechte Absicht stecken müsse“ (WH,7), was Arendt „während des Eichmann-Prozesses“ (ES,140) revidiert. Aus diesem Grund muss der Begriff des „Bösen“ neu gedacht und definiert werden, da jegliche Terrorakte dazu zwingen, „genauer hinzusehen“ (WH,9). Arendt nimmt diese Herausforderung an, da sie sich selbst „eingestehen [muss], dass sie nicht [weiß], was das radikal Böse ist“ (WH,9). Während ihrer Berichterstattung in diesem Prozess, „[fand] sie die Formel von der ‚Banalität des Bösen‘“ (ES,140).

Die philosophische Steigerung ins Extreme vs. die Realität des Dritten Reichs

Um eine philosophische These eindeutig erläutern zu können, bietet es sich an, die These ins Extreme zu steigern. Ein Beispiel findet sich in Platons Politeia. Glaukon steigert dort des Sophisten Thrasymachos These, nur das Schlechte sei erstrebenswert und somit die eigentliche Tugend des Menschen, ins Extreme, damit Sokrates diese These eindeutig widerlegen kann (resp,358b). Um die Banalität des Bösen Arendts ins Extreme zu steigern, bedarf es jedoch keiner These. Sie selbst greift auf die reale Geschichte der Menschheit zurück, in dem sie den Nationalsozialismus und den Holocaust als Ursache für ihre Untersuchungen heranzieht. Schweigen, fehlender Widerstand, aber vor allem die Millionen, die das System mit ihren Taten und ihrer Arbeit unterstützten, setzen die Frage fest, wie so viele Menschen zur gleichen Zeit im gleichen Raum derart Böses tun bzw. unterstützen konnten.

Platon: „Lieber leiden als tun“

Nur die wenigsten unter diesen versuchten, dagegen vorzugehen oder sich zumindest nicht anzuschließen. Es waren merklich wenige Schuldlose (ÜdB,51), die „Ich kann nicht“ (ÜdB,52) zu den Verbrechen sagten. Nach Arendt „[sind] in Ausnahmezeiten […], moralisch gesehen, die einzigen zuverlässigen Menschen jene, die sagen ‚Ich kann nicht!‚“ (ÜdB,53). Sie wollen sokratisch „lieber leiden als tun“ (ÜdB,52f). Die Bedingungen eines solchen Widerständischen im NS-Regime vergleicht Arendt wie folgt:

Die Situation eines Nazigegners [gleicht] dem Schicksal eines normalen Menschen, der zufällig in eine Nervenheilanstalt gesteckt wird, in der alle Insassen an ein und derselben Wahnvorstellung leiden: Unter solchen Umständen wird es schwierig, seinen eigenen Sinnen noch zu trauen. Und es besteht die dauernde Belastung, sich gemäß den Regeln der kranken Umgebung verhalten zu müssen“ (BiD,45).

Problematisch war, dass die Vielen eine „Ausnahmesituation“ und „eine Aufbauschung durch die alliierte Propaganda […] [vermuteten]„, was zumindest „psychologisch nahe [liegt]“ (EiJ,129). Begünstigt wurde die Situation dadurch, dass schon vor Hitlers Machtergreifung der Antisemitismus weit verbreitet war (ME,26). Er „[erstickte nun] jeglichen Ansatz einer Solidarität mit den jüdischen Opfern. […] Das NS-Regime beruhte geradezu auf dem eingeübten Mechanismus kollektiver Verdrängung unbequemer oder verhängnisvoller Einsichten“ (EiJ,17).

Das Zugehörigkeitsgefühl

Erschwerend hinzu kommt auch der Wunsch eines Zugehörigkeitsgefühls. „Wer dabeibleiben will, muss mitmachen„, was allerdings dazu führt, dass, „wer […] erst einmal mitmacht„, es schwerer hat, „später [wieder] auzusteigen„, da er sich „immer mehr in einer Einheit von Tat und Verantwortung [verstrickt]“ (WH,23). Dass der Mensch an einer Gesellschaft Teil haben möchte, zeigt sich darin, dass er sich „die Gesellschaft gleichartiger Wesen sucht. Familie, Sippe, Stamm und Volk sind einiger dieser Formen, die ihre Zusammengehörigkeit vor allem auf Sprache, Bräuche, Lebensraum und entwickelte Kultur begründen. Im Laufe der Geschichte wurde [so] der Begriff der Nation entwickelt“ (EA,34).

Ein „Nationalcharakter“ entwickelt sich durch das Nachahmen von „Beispiele[n]„, doch werden „die falschen Exempel statuiert“, „[kann ein Volk] leicht auf Abwege geraten“ (Dtb2,665). Der Mensch nimmt die geltenden Normen schnell an, um dazuzugehören, ohne sie ernsthaft zu hinterfragen. Der „Ursprung“ einer Gesellschaft findet sich aber auch in der „Arbeitsteilung“ wieder. „Je essentieller […] die Funktion ist, desto leichter muss der ‚Funktionär‘ auswechselbar sein. Dies ist das Gesetz des Funktionierens“ (Dtb1,436). Das Dritte Reich war vor allem eine Gesellschaft aus funktionierenden Mitgliedern und jeder wusste um seine Austauschbarkeit, weswegen er sich an die Normen hielt, die ihm auferlegt worden sind. Andernfalls hätte es die Unterstützung der Millionen überhaupt nicht geben können. Ein weiteres Merkmal der „Arbeitsteilung“ (ME,28) ist, dass nicht mehr klar ist, für was man verantwortlich ist, das macht es für das Individuum einfacher. „Der Einzelne überblickt nicht mehr die Gesamtsituation“ (ME,28).

Moralität

Nach Arendt ist „eine Diktatur […] die Meinungsfreiheit durch [eben diese ersetzen] und diese einzige Meinung […] weder [begründen] noch [verantworten] zu müssen“ (BiD,31). Durch die umgreifende Teilhabe und die Unterstützung der Vielen an den Verbrechen des Dritten Reichs, muss Arendt sich zu Recht fragen, wo die Moral in den Menschen zu finden ist. Philosophisch gesehen sollte sie bisher in jedem Mensch von vornherein vorhanden sein, ebenso wie das Wissen über Recht und Unrecht (ÜdB,26). Doch mit den Taten des Nationalsozialismus „[kann niemand] weiterhin behaupten: Das Moralische versteht sich von selbst“ (ÜdB,26).

Vor allem auch deshalb nicht, weil die Moralität nichts mit Gegehorsam gegenüber eines Rechts oder eines Gesetzes zu tun hat (ÜdB,36). „Das radikal Böse [setzt allerdings die] Moral [vollständig]“ außer Kraft und „an ihre Stelle […] eine Ideologie oder Religion“ (WH,12). Wichtig zu erwähnen ist, dass „der Holocaust […] für Arendt kein (bloß) ‚historisches‘ Ereignis [ist]“ (ES,157). Es ist ein beispielloser Fakt, der die komplette Sicht auf die Moralität des Menschen in Frage stellt. Sie sagt auch, dass „die Geschichte […] des Dritten Reiches“ lediglich „der Hintergrund und die Umstände“ sind, „unter denen […] Handlungen“ (EiJ,54f) begangen worden sind. Es geht daher um den Menschen selbst und dessen Fähigkeit und Unfähigkeit moralisch zu handeln – vor allem in Ausnahmesituationen.

Denn „wenn Normen [in Krisenzeiten und Ausnahmezuständen] nicht mehr gültig sind“ (ÜdB,94), muss die menschliche Moral eingreifend zum richtigen Handeln leiten. Dafür muss der Mensch allerdings eigenständig denken gelernt haben. Beunruhigend für Arendt ist es auch, als sie Deutschland nach dem Krieg das erste Mal wieder besuchte. Sie stieß auf den Deutschen, der „apathisch“ ist, unter „[allgemeinem] Gefühlsmangel“ und „[offensichtlicher] Herzlosigkeit [leidet]“ (BiD,275). Sie muss erkennen, dass die Deutschen unfähig und widerwillig sind, „zwischen Tatsache und Meinung zu unterscheiden“ (BiD,31). Sie findet es „[erschreckend]„, dass die Deutschen „mit Tatsachen so [umgehen], als handele es sich um bloße Meinungen“ (BiD,29).

Da „jeder das Recht auf eine eigene Meinung habe„, lässt „die stillschweigende Annahme“ dahinter verbergen, „dass es auf Meinungen nun wirklich nicht ankomme“ (BiD,30). Sie bezeichnet dieses Verhalten als eine „Hinterlassenschaft des Naziregimes“ (BiD,30) und vergleicht diese „Flucht vor der Wirklichkeit […] auch [als] eine Flucht vor der Verantwortung“ (BiD,26). Ihnen fehle „die offizielle Richtschnur“ (BiD,33). „Die Deutschen hätten nur das getan, wozu andere auch fähig seien […] oder wozu andere künftig in der Lage wären“ (BiD,28). Dabei ist auch wichtig zu verstehen, dass es „psychologisch leicht“ ist, „Verantwortung nicht wahrzunehmen, wenn man nur ein Zwischenglied in einer Kette übler Aktionen ist“ (ME,28). Hier stellt sich die Frage nach dem menschlichen Dasein. Wie kommt der Mensch zu seiner Verantwortung, seiner Moral, zu seinem Wissen über Recht und Unrecht?

Arendts Pluralismus im Menschen und die Moralität

Um zu klären, wie es möglich ist, dass Menschen dazu fähig sind, solche Taten wie die Verbrechen der NS-Zeit zu stützen, tolerieren und vor allem zu begehen, muss der Mensch als solches definiert werden. Wie ist es möglich, dass ein Mensch zu Bösem fähig ist, wenn es doch nicht seiner Veranlagung entspricht?
Arendt erklärt, dass der Mensch im Plural und nicht im Singular zu verstehen ist. Nicht nur seine Handlungen entstehen in der Pluralität mit anderen Menschen. Der „Mensch [kann nicht] allein existieren„, was sich in seiner „Zweigeschlechtlichkeit“ zeigt (Dtb1,37).

Sondern auch der Pluralismus in einem Menschen selbst führt dazu, überhaupt Person zu sein. „Die Pluralität ist für Arendt nicht nur eine Bedingung der menschlichen Existenz, sondern auch der Maßstab zur Bewertung der Menschlichkeit oder Unmenschlichkeit einer Gesellschaft“ (WH,18). Im Gegensatz zum Pluralismus mit anderen Menschen gibt der Pluralismus in einem selbst nicht die Möglichkeit, einfach wegzugehen, wenn das Innere mit sich selbst nicht übereinstimmt. Nach Arendt ist es nicht aushaltbar, „mit einem Unrechttuenden zusammenzuleben“ (ÜdB,70).

Nicht mit sich selbst im Reinen sein

Daher ist es wichtig, mit sich selbst im Einklang zu leben, denn „wenn Sie mit Ihrem Selbst uneins sind, ist das so, als wenn Sie gezwungen wären, täglich mit ihrem eigenen Feind zu leben und zu kommunizieren„, das könne sich keiner wünschen (ÜdB,71). Zum einen zeigt diese Aussage, dass Arendt der Ansicht ist, dass ein Mensch nicht von sich aus nach dem Bösen strebt, denn, wie oben geschrieben, es „kann sich keiner wünschen“ mit dem „eigenen Feind zu leben“ (ÜdB,71). Zum anderen spricht sie die Kommunikation an. Da der Mensch mit sich selbst über Dinge einig wird, muss er in einer Kommunikation mit sich selbst stehen, was sie in Folge dessen Pluralität bezeichnet.

Gespräch mit sich selbst passiert schon dann, „wenn ich einen Vorfall auf der Straße [beobachte] […] und danach beginne, das, was geschah, zu betrachten […] und […] aufbereite“ (ÜdB,75). „Jeder Denkprozeß ist eine Tätigkeit, bei der ich mit mir selbst über das spreche, was immer mich gerade angeht“ (ÜdB,81). Damit entsteht erst die Erinnerung, denn „niemand kann sich an das erinnern, was er nicht durchdachte, in dem er darüber mit sich selbst gesprochen hat“ (ÜdB,76).

Von Erinnerung & Reflektion zur Persönlichkeitsentwicklung

Ohne Erinnerung kann aber auch kein Bewusstsein dafür entstehen, sich selbst für seine Taten verantwortlich zu fühlen. Es ist wichtig, das Geschehene reflektieren zu können, denn, „Reue [besteht] zuerst darin, nicht zu vergessen, was man getan hat“ (ÜdB,75). Arendt erkennt darin auch eine Gefahr, denn „wenn ich mich weigere zu erinnern, bin ich eigentlich bereit, alles zu tun„, ebenso „wie mein Mut völlig sorglos sein würde, wenn“ (ÜdB,76) ich mich nicht an Schmerzen erinnerte. Durch das Nachdenken entwickelt sich nach Arendt auch die „Persönlichkeit“ (ÜdB,77), weil dadurch „Wurzeln [geschlagen]“ würden (ÜdB,85).

Für Arendt entsteht moralisches Verhalten also im Gespräch mit sich selbst, in dem der Mensch sich selbst nicht widerspricht und sich somit auch nicht selbst verachtet (ÜdB,34). Dadurch ist er fähig, Recht von Unrecht zu unterscheiden und kann somit Rechtes tun und Unrecht meiden. Nach Kant sind das die Pflichten, die ein jeder gegenüber sich selbst zu erfüllen hat. Sie begründen die menschliche Würde und wahren die Selbstachtung (ÜdB,35), denn „bestimmte Dinge kann ich nicht tun, weil ich danach nicht mehr […] mit mir [zusammenleben] kann“ (ÜdB,81).

Wurzeln schlagen heißt Persönlichkeit entwickeln

Schließlich sei es besser, „mit der ganzen Welt uneins zu sein, als […] nicht mit mir selbst im Einklang zu stehen“ (ÜdB,85). Entscheidend an dieser These ist, dass Arendt sagt, dass „das Denken an vergangene Angelegenheiten bedeutet […], Wurzeln zu schlagen“ (ÜdB,77), was analog dazu zu verstehen ist, dass sich aus diesem Wurzelnschlagen auch die „Persönlichkeit“ (ÜdB,77) herausbildet. Allerdings könne das „größte Böse […] nicht radikal [sein]“ (ÜdB,77), da es keine Wurzeln habe. „Weil es keine Wurzeln hat, hat es keine Grenzen, kann sich ins unvorstellbar Extreme entwickeln und über die ganze Welt ausbreiten“ (ÜdB,77). Arendt vergleicht das Böse auch mit einem Pilz, der sich über die Welt verbreitet: „Es hat keine Tiefe […]. Es kann die ganze Welt verwüsten, gerade weil es wie ein Pilz an der Oberfläche weiterwuchert“ (Arendt/Scholem,444). Somit ist „das grenzenlose, extreme Böse […] nur dort möglich, wo […] selbstgeschlagene […] Wurzeln […] fehlen“ (ÜdB,86).

Das Böse hat keine Wurzeln, es ist wie ein Pilz …

Das bedeutet, dass dieses Böse nicht im menschlichen Charakter grundsätzlich vorhanden sein kann, da dieser Wurzeln schlägt, um sich zu bilden. Allerdings passiert es dennoch, dass sich das Böse über den Menschen auf der Welt ausbreitet, wenn das eigenständige Denken durch das Annehmen von Gedanken anderer Menschen ersetzt wird, wie es im NS-Regime passiert ist.

Politisch scheint Sokrates geglaubt zu haben, dass nicht Wissen als solches, sondern Wissen darüber, wie man denkt, die Athener besser machen werde, fähiger, dem Tyrannen zu widerstehen“ (ÜdB,155). Die Menschen im sogenannten Nazi-Deutschland konnten dem Tyrannen offensichtlich nicht widerstehen, was aufzeigt, dass ihnen das Wissen darüber, wie man denkt, fehlt. Das zeigt wiederum, dass sie nicht mit sich selbst im Dialog stehen und somit ihre eigene Persönlichkeitsbildung verhindern.

Das größte begangene Böse ist das Böse, das von Niemandem getan wurde, das heißt von menschlichen Wesen, die sich weigern, Personen zu sein. […] [Sie weigern sich], selbst über das nachzudenken, was sie tun, und [sind] auch im Nachhinein“ nicht bereit, „sich an das zu erinnern, was sie taten“ (ÜdB,101). Die Auseinandersetzung mit den Taten bleibt aus, die möglicherweise ergeben hätte, dass sie nicht mehr in der Lage wären, mit sich selbst zusammenzuleben. Sie könnten sich selbst nicht verzeihen. „Nach Sokrates wäre Unrecht [also] all das, was ich nicht ertragen kann, getan zu haben, und der Übeltäter wäre jemand, der des Zwiegesprächs unfähig ist, beonders des Gesprächs mit sich selbst“ (ÜdB,120).

Der Begriff der Person

Die „Pluralität“ des Menschen „steht [allerdings auch] für die unendliche Verschiedenheit der Menschen. […] Der Antisemitismus zerstört diese Differenz, […] macht sie gleich, duldet nichts anderes“ (ÜdB,180). Die Vielfältigkeit der „Menschen und Völker“ ist der Grund für „Politik“ und ohne diese „grundsätzliche Ungleichheit […] bedürfte es keiner Gesetze“ (Dtb1,37), aber gerade das macht Arendts Begriff einer Person aus. Sobald alle Persönlichkeiten gleich denken, handeln und somit gleich sind, hat das Böse eine ebene Fläche, um sich über diese auszubreiten.

Sobald der „Dialog des Denkens […] fehlt, gibt es keine Tiefe mehr, sondern Verflachung. […] Aus dieser Verflachung kommt das Unheil“ (Dtb2,622). Es ist allerdings ebenso widersinnig, „jemandem, der nicht denkt, zuzumuten, sich moralisch zu verhalten„, denn sobald der Mensch nicht mehr mit sich selbst im Dialog steht, kann er auch nicht begreifen, wie ihm „zumute sein würde, wenn [ihm] geschähe, was [er] dem Anderen tue“ (Dtb2,740). Auch Eichmann schien für Arendt „nahezu“ komplett unfähig, „jemals eine Sache vom Gesichtspunkt des anderen her zu sehen“ (EiJ,124). Das nennt Arendt „das ‚Böse‘“ (Dtb,740).

Verlust der Pluarlität

Als Arendt bei ihrem Deutschlandbesuch der „Gefühlsmangel […] begegnete“ (WH,24), verband sie diese Eigentümlichkeit mit der „Realitätsflucht“ und dem „[Verlust] der Pluralität“ (WH,24). Wenn die Pluralität „schwindet, […] tritt an die Stelle des Nachdenkens die Gedankenlosigkeit“ (WH,18). Das Handeln in Stummheit „ist für Arendt gewaltsames Handeln, weil die Möglichkeit“ des Austausches und der Kompromisse „durch das Sprechen“ nicht stattfinden kann (WH,18). Entsprechend dem wird ein weiterer Begriff eingeführt: das Urteilsvermögen des Menschen.

Über das Urteilen

Dieses steht der Singularität entgegen, da es „den Menschen die Möglichkeit [gibt], sich gegen etwas zu entscheiden, auch wenn die gesamte Umgebung anders denkt und handelt“ (ÜdB,180). Das Urteilen ist die „Fähigkeit, Recht von Unrecht zu unterscheiden“ (ÜdB,156). Entscheidend ist festzuhalten, dass das Urteilen sich aufgrund von Beispielen vollzieht. Vergleiche durch Beispiele werden aus der Erinnerung herangezogen, die durch das Denken möglich sind. Durch diese Beispiele können Maßstäbe geschaffen werden, die zu Vorbildern werden (Dtb2,680).

Wichtig bei diesen Erinnerungen oder auch Vorstellungen ist die Einbildungskraft. „Die Einbildungskraft ist zum Urteilen nötig, weil ohne sie keine Alternativen vorliegen würden“ (Dtb2,680). Es ist das „Vermögen“ der Einbildungskraft, die gedanklich auf etwas zurückgreifen kann, das nicht „gegenwärtig“ (Arendt/Urteilen) ist. „Ohne Einbildung ist das Urteil blind“ (Dtb2,680), denn „das Urteil [wird] um so repräsentiver […], je mehr Standpunkte anderer Leute ich mir in meinem Denken vergegenwärtige und also bei meinem Urteil berücksichtigen kann“ (ÜdB,143). Da der Mensch sich an den Urteilen seiner Mitmenschen orientiert, kann gesagt werden, dass der Ursprung der „Urteilskraft“ (ÜdB,143) in der Gemeinschaft liegt, der aus Gemeinsinn entsteht. Arendt stellt weiterhin fest:

Der Geschmack ist das Vermögen, mit dem wir uns in die Welt einpassen, in ihr wählen wir, was zu uns gehört [und] was nicht – Dinge, Menschen, Handlungen. Kant hatte recht – Geschmack und Urteilskraft sind dasselbe“ (Dtb2,681).

Der Mensch sucht sich dem entsprechend aus, mit wem er zusammen sein möchte. Gleichfalls hat er sich im Idealfall ein Urteil über seine Mitmenschen gebildet, in deren Gesellschaft er leben will oder nicht. Wenn der Wunsch, in der Gemeinschaft zu leben, allerdings größer ist, als der Leitspruch: „Es ist besser mit der ganzen Welt uneins zu sein, als […] mit mir selbst“ (ÜdB,144), beginnt die Verflachung des eigenen Selbsts, weil zugunsten der Gemeinschaft das eigene Urteil weniger wert wird, als das der Menge. Weiterhin bedenklich ist das fehlende Hinterfragen von „Normen und Regeln [im Alltagsleben]“ (ÜdB,145), da sich die Frage stellt, wie der Mensch so „Recht und […] Unrecht“ unterscheiden kann, wenn er dazu „aufgefordert“ (ÜdB,145) wäre.

Das Gefährliche an Beispielen & Ausnahmen

Vor allem gefährlich ist die Vergegenwärtigung von „Beispielen“ (ÜdB,148), die eine Ausnahme bilden. Sobald Ausnahmen eine gewisse Situation entschuldigen, die moralisch-objektiv gesehen nicht zu entschuldigen ist, wird der Mensch leicht fähig sein, sich am Exempel zu orientieren und die allgemeine Objektivität über die Sachlage außer Acht lassen. Problematisch ist die Masse der Menschen, denn zum „Unheil gehört, dass es organisiert [ist], d.h. dass die Vielen involviert sind“ (Dtb2,623). Da das „Unheil […] aus der Verflachung [kommt]“ (Dtb2,623), kann es sich über die Masse der Vielen, die nicht bereit ist, selbst zu denken, ausbreiten.

Der Wille und das Gewissen

In Bezug auf das Urteilen sind allerdings auch der Wille und das Gewissen zu nennen. Das Gewissen „ist eine Art von Dialog, und es hängt von jedermann ab, mit wem er ihn zu führen wünscht“ (WH,25). Das Gewissen kann somit nicht zwischen Recht und Unrecht unterscheiden. Es orientiert sich an seiner Umgebung. Eine Entscheidung, die mit der Moralität nichts zu tun hat, sondern lediglich mit der Meinung des anderen oder der Gesellschaft, in der man lebt, kann nur dann richtig sein, wenn die Umgebung richtig ist.

Gefährlich ist es also, sich auf sein Gewissen zu verlassen und zu glauben, dass es zwischen „Recht und Unrecht“ (ÜdB,95) zu unterscheiden in der Lage ist. Beispielsweise könnte ein Nazi ein schlechtes Gewissen bekommen, wenn er einen Tötungsbefehl Hitlers – aus welchen Gründen auch immer – nicht ausführt (ÜdB,95). Es ist somit kein moralisches Gefühl, sondern eines, das „etwas über Anpassung und Nicht-Anpassung [aussagt]“ (ÜdB,95). „Gewissenskonflikte […] sind nichts anderes als Betrachtungen zwischen mir und mir selbst; Sie werden nicht durch Fühlen gelöst, sondern durch Denken“ (ÜdB,96) und das Denken orientiert sich an den Beispielen, die es heranzieht, um sie zu beurteilen.

„Weit verbreitet ist“ aber vor allem die „Tendenz, das Urteilen überhaupt zu verweigern“ (ÜdB,150) und somit ist die „Wahrscheinlichkeit […] groß“ (ÜdB,150), dass die gewählte Gesellschaft keinem eigenen, hohen Anspruch entspricht. Gründe hierfür können Ungewilltheit oder auch „Unfähigkeit“ sein, „seine“ Gesellschaft oder „seine Beispiele“ zu wählen bzw. generell zu urteilen (ÜdB,150). So entstehen das Böse und „zugleich seine Banalität“ (ÜdB,150).

Das Denken mit sich selbst (wie mit einem Freund); das Wollen gebietet sich selbst – wie der Herr seinem Knecht; der Knecht, unterdrückt, hat seinen eigenen Willen […]; das Urteilen reflektiert auf sich selbst: Es gefällt, es gefällt mir nicht. Nur im Willen entsteht ein Streit zwischen mir und mir selbst. […] Der Wille wirft mich ganz auf mich selbst als Zerissenheit zurück“, weil „ich als Herr [will]“, aber „ich als Knecht [will nicht]“ (Dtb2,756).

Der Wille ist letztendlich das, was „mich ins Handeln [treibt]“ (ÜdB,102). Er ist unabhängig von anderen und betrifft nur das Innere des Einzelnen selbst (ÜdB,104). Die Entscheidungen können allerdings bei mehreren „Optionen“ (ÜdB,114) zu einem „Abwägen oder Beraten“ (ÜdB,114) führen. Die Kommunikation des Willens ist zwar zwiegespalten, aber viel mehr „ein Kampf und kein Dialog“ (ÜdB,115), weil es sich hier um keine gleichberechtigten Dialogpartner handelt, sondern um einen befehlenden und einen gehorchenden Teil.

Der Wille „kennt“ (Dtb2,638) nichts anderes als diese beiden Positionen. Während das Denken abwägt, was getan werden könnte, ist der Wille dasjenige, das „die Macht […] zu entscheiden“ (ÜdB,118) hat, was im Endeffekt getan werden soll. Der Wille selbst entsteht allerdings „erst dann, wenn [er] alles erhalten“ (ÜdB,133) hat, wenn also die Grundbedürfnisse gestillt sind. Erst danach kann der Wille entscheiden, ob er etwas will, das außerhalb des Existenznotwendigen zur Auswahl steht. Beispielsweise ein Stück Kuchen ohne Hunger zu haben. Nach Nietzsche wäre „dieses Mehr an Kraft„, das nach dem Stillen der Grundbedürfnisse vorhanden ist, „die Wurzel aller Produktivität“ und der Grund dafür, dass „Menschen [sich] dazu veranlaßt [sehen], Gutes tun zu wollen und es gerne zu tun“ (ÜdB,133f).

Zusammengefasst: Die menschliche Pluralität

Die „menschliche Pluralität“ (ÜdB,93) entsteht, zusammenfassend gesagt, durch den Dialog mit sich selbst. Dabei reflektieren die Gedanken alles „was […] mich […] angeht“ (ÜdB,81). Diese Vergegenwärtigung ist ohne Einbildungskraft nicht möglich und ohne diese nicht das Erinnern und Aufarbeiten von Entscheidungen. Die Einbildungskraft ist weiterhin notwendig, um verschiedene Alternativen abrufen zu können, die zu Entscheidungen führen. Diese Entscheidungen werden vom Willen geleitet, der eigens zweigeteilt ist.

Der eine Teil des Willens befiehlt und der andere gehorcht. Ob diese Befehle Recht oder Unrecht sind, kann nur das Denken und Urteilen entscheiden, weil das Gewissen unzuverlässig ist. Problematisch sind hierbei falsche Beispiele, an denen sich das Individuum orientieren könnte. Gerade auch während der NS-Zeit war „Allen […] zur Gewohnheit geworden, sich selbst zu betrügen“ (EiJ,129), in dem die Menschen sich an falschen Beispielen orientierten. Arendt hält zumindest fest, dass „das Böse […] nicht Resultat des bösen Willens“ sein kann, „weil es den radikal bösen Willen, der das Böse um des Bösen willen will, vermutlich nicht gibt“ (Dtb2,622f). „Wie wird nun [aber] Recht von Unrecht [unterschieden]“ (ÜdB,137)?

Die Banalität des Bösen

Die ‚Banalität des Bösen‘ ist […] eine oberflächliche Bosheit“ und „verbreitet sich eben deswegen wie ein Lauffeuer über die Welt„, weil es „die Tiefe eines eigentlichen Gedankens […] nicht erreicht“ (ES,144). Aber „nicht warum es das Böse gibt, sondern worin es besteht, war Arendts Frage“ (WH,21). Für Arendt sind die „verschiedenen Merkmale des Bösen„, die „Gedankenlosigkeit und Weltlosigkeit“ sowie „die Feststellung […], dass das Böse keine Tiefe hat“ (WH,21). Die Banalität selbst besteht also vor allem darin, dass die menschliche „Pluralität“ (WH,10) unterdrückt wird.

Die daraus resultierende Gedankenlosigkeit ist verantwortlich dafür, dass keine gute oder schlechte Absicht zu den Handlungen entstehen kann. Wer nicht denkt, kann nicht urteilen und somit auch keine Absichten entwickeln. Wenn es aber keine „böse Absicht“ für „die extreme böse Handlung“ (WH,24) gibt, dann wird eindeutig, dass das Böse keine Tiefe haben kann. Entscheidend ist aber auch ihre Feststellung bezüglich der Banalität, dass „diese Leute [keine] gewöhnlichen Verbrecher, sondern ganz normale Zeitgenossen“ (ÜdB,23) sind, die einfach nur nach Befehlen handeln (ME,18). Arendt sagt weiter, dass „wir […] uns also mit dem Verhalten von gewöhnlichen Menschen [beschäftigen]“ (ÜdB,154), die weder besonders boshaft, antisemitisch oder andersartig herausstechend sind.

Das Böse ist kein Dämon, es ist der Nachbar nebenan

Es sind eben gerade die „[gewöhnlichen] Menschen und [gewöhnlichen] Ereignisse“ (ÜdB,154), die die Banalität ausmachen. Keine Teufel und Dämonen, keine Monster und Ungeheuer, sondern der typische „Nachbar von Nebenan„, dem man im Volksmund jegliche Boshaftigkeit abspricht. Genau jener Typ Mensch, den Arendt in Eichmann erkennt. Banalität kann gleichgesetzt werden mit Oberflächlichkeit, wie schon im Wesentlichen durch die Verflachung erklärt wurde. Letztendlich ist auch immer die Tat dasjenige, das „sich auf die Welt [auswirkt]“ (SN,47), nicht die Absicht.

Das zeigt sich auch bei Eichmann, wenn er behauptet, keine persönlichen Absichten zu haben, „seine Opfer“ (EiJ,104) zu töten oder töten zu lassen. Was er vielleicht wollte, mag etwas anderes sein, aber am Ende zählt nur, dass er tat, was er tat. Andernfalls wäre jeder Verbrecher freizusprechen, der glaubhaft vermittelt, seine Absichten seien gute gewesen, während er ein Verbrechen begangen habe (SN,49). Am Beispiel Eichmanns wird deutlich, dass das Böse kein dämonisches Gesicht hat.

Viel mehr bezeichnet Arendt den SS-Obersturmbannführer als „Hanswurst“ (IWV,62), „unfähig, sich die mörderischen Konsequenzen seiner Taten vor Augen zu führen“ (LWW,48). Auch „Brecht bezeichnete Hitler als ‚Clown‘. […] [Diese] Oberflächlichkeit dieses Tätertyps hat [Arendt] als ‚Banalität des Bösen‘ bezeichnet“ (LWW,98). Für Arendt ist es wichtig, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, wie gefährlich das Unscheinbare tatsächlich sein kann (IWV,39). Heuer drückt dies wie folgt aus:

„Der Begriff ‚Banalität des Bösen‘ […] bedeutet, dass dieses Böse keine Tiefe und keine Größe hat. Es bedeutet nicht, Böse-Sein, sondern Böses-Tun. Die Taten werden nicht von einem bösen Charakter begangen, sondern von jemandem, der die Wirklichkeit verloren hat und dessen Böses-tun von dem Nichttun des Denkens begleitet wird“ (WH,22).

Wer Verantwortung abgibt, ist nicht zu verurteilen?

Tatsache [ist], daß Menschen mindestens ebenso oft versucht sind, Gutes zu tun, wie sie sich anstrengen müssen, Böses zu tun, und umgekehrt“ (ÜdB,55). Das Böse liegt also „ausschließlich in der Eigenverantwortung der Menschen“ (WH,20). Dafür ist es allerdings grundlegend wichtig, dass der Mensch über „sich selbst bestimmen“ (Auer,10) kann. Eine Fremd-Bestimmung führt dazu, dass die befehlende Autorität dem Menschen die Fähigkeit zur Verantwortung nimmt. Ein grundlegendes Problem dabei ist, dass der Mensch zu außergewöhnlichen Taten fähig wird, sobald ihm die Verantwortung abgenommen wird und er behaupten kann, dass er deswegen unschuldig sei.

Dieser Selbstbetrug zeigte sich in den Verhandlungen in der Nachkriegszeit, so auch bei Eichmann, der sich selbst für die Taten nicht verantwortlich fühlt, weil er nur getan habe, was ihm befohlen wurde und er sogar „seinen eigenen Vater in den Tod geschickt hätte, wenn das verlangt worden wäre“ (EiJ,117). Eichmann „hat keine Tiefe, weil dies Weltbezug, Denken und Urteilen bedeuten würde“ (WH,21). Den entscheidenden Beweis für Arendt liefert Eichmann darin, dass er unfähig ist, „sich auszudrücken, was für sie auch der Ausdruck einer Unfähigkeit zu denken“ (LWW,100) ist.

Entscheidend ist im Vergleich zu Eichmann aber auch, dass jeder sich fragen muss, „wohin [ihn seine] Handlungen – oder ihr Unterlassen – führen„, „wenn Eichmann Böses tun konnte, ohne es zu beabsichtigen“ (SN,50). Letztendlich sagt auch Eichmann genauso wie andere NS-Verbrecher, „sie hätten […] immer nur Befehle befolgt“ (ÜdB,101).

Das Milgram-Experiment

Wer aber nur Befehle befolgt, wird von einer Autorität unterdrückt. Die Arbeitsteilung und der Verwaltungsapparat einer „modernen Massengesellschaft“ birgt das Risiko zur Verbreitung des „banalen Bösen. Verschiedene Experimente haben das gezeigt. [Beispielsweise] das Milgram-Experiment in den [1960er] Jahren, das zeigte, wie die Bereitschaft des Gehorsams gegenüber Autoritäten individuelle moralische Bedenken außer Kraft setzen kann“ (WH,23). Sobald die Verantwortung an eine Autorität abgegeben werden kann, besteht die Gefahr, dass normale Menschen beispielsweise zur Folterung anderer bereit sind. „Ein gewisses Autoritätssystem ist für jegliches Gemeinschaftsleben nötig“ (ME,17), doch zeigte sich im Nationalsozialismus wohin es führen kann, „wenn eine große Zahl von Menschen [den] Befehlen [eines einzelnen gehorcht]“ (ME,17).

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Bemerkenswert und erschreckend ist, dass das Milgram-Experiment „sich ausschließlich mit der Form des Gehorchens [befasst], die ein Mensch von sich aus entgegenbringt ohne die geringste Anwendung von Druck und Drohung“ (ME,11). Trotz dass diese Gefahr fehlte, waren die Probanten bereit zur Folter. Daher ist „die Bereitschaft bei Erwachsenen, auf jeden Befehl einer Autoritätsperson nahzu alles zu tun, […] eine Tatsache“ (ME,21). Es ist aufgrund der Testergebnisse nicht verwunderlich, dass es in der NS-Zeit dasselbe Verhalten war, wenn man bedenkt, dass dort die Gefahr des eigenen Lebens bei Ungehorsam gegeben war.

Es ist ein „Gefühl von Verpflichtungen heraus“ (ME,22), warum die Probanten der Autoritätsperson gehorchen. Dies begründet sich „zunächst einmal“ mit dem Gefühl der „Höflichkeit„, dem Wunsch, ein „Versprechen“ einzuhalten, „dem Versuchsleiter zu helfen, und die Peinlichkeit des Ausscheidens“ zu vermeiden (ME,23). „Anpassung“ ist ein weiterer Grund des Gehorsams, vor allem dadurch, dass der Versuchsleiter die Verantwortung übernimmt. Ebenso wie der Wunsch, „die Beziehung zum Versuchsleiter aufrechtzuerhalten“ (ME,24). Milgram selbst beschreibt seine Eindrücke wie folgt:

Nachdem ich in unseren Experimenten gesehen habe, daß sich Hunderter normale Durchschnittsmenschen der Autorität unterordneten, gelange ich zwangsläufig zu dem Schluß, daß Hannah Arendts Konzept von der ‚Banalität des Bösen‘ der Wahrheit näher kommt, als man sich vorzustellen wagen würde“ (ME,22).

Interessanterweise leugnen die Menschen „das menschliche Element hinter Behörden und Institutionen“ (ME,25). Sobald im Versuch gesagt wird, „das Experiment“ verlange das Weitermachen, nimmt der Probant an, dass dieser Befehl wichtiger sei, „als eine bloß menschliche Anordnung“ (ME,25). Problematisch ist, dass beispielsweise Eichmann den „Führerwillen“ verinnerlichte und so „autonomer“ wurde, „als es ein von oben gegebener Befehl jemals sein könnte“ (ÜdB,178). Mit dieser verinnerlichten Ideologie war es ihm möglich, entsprechende Entscheidungen zu treffen, zu denen es keine Befehle mehr bedurfte. Dabei war Eichmann selbst gar nicht ideologisch, er nahm lediglich von außen an, worüber er innerlich nicht nachdachte. Arendt führt dies noch weiter aus:

Während ein Befehl die Menschen nur von außen erreicht und das Handeln dort ein Ende findet, wo auch der Auftrag endet, erfasst der ‚Führerwille‘ das Individuum von innen, dringt bis tief in die Psyche ein und nimmt von ihr vollständigen Besitz. Er ist unendlich, kann sich immer wieder neu definieren und so ständiger Antrieb des Agierenden sein“ (ÜdB,179).

In der Person von Adolf Eichmann habe Arendt die völlige Negierung und Zerstörung der Pluralität erkannt“ (WH,10) – die Voraussetzung für das extrem Böse. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass jeder Mensch sich auf sein in ihm „verankertes Rechtsgefühl“ verlassen können sollte, wenn er die gegebenen Gesetze nicht kennt. Problematisch bei Eichmann aber ist, dass er sich darauf nicht verlassen brauchte, da er „mit den Gesetzen des Landes“ vollkommen „vertraut“ war (EiJ,63). Dass die Verbreitung des Bösen zwingend notwendig ist, um derartige Verbrechen zu begehen, wie sie in der NS-Zeit begangen worden sind, zeigt sich daran, dass der „Mensch […] als Einzelner […] ohnmächtig“ ist. „Stärke wird zur Macht nur im Zusammen“ und „Macht entspringt im Zwischen der Pluralität [zwischen Menschen]„, weswegen sie sich niemand einfach „aneignen“ kann (Dtb1,160f). Somit wird deutlich, dass auch „Recht und Unrecht, das Menschen einander antun, […] ihre Masstäbe [sic] im Zwischen“ haben. Sie „richten sich nach dem, was zwischen Menschen beschlossen wurde“ (DtB1,179).

Fazit: Hannah Arendt und die Banalität des Bösen

Letztendlich muss Hannah Arendt sich eingestehen: „Das Böse hat sich als radikaler erwiesen als vorgesehen“ (IWV,242) und „was das radikal Böse nun wirklich ist, weiß ich nicht“ (IWV,243). Hilfreich ist die Banalität allerdings auch deshalb, weil eine Dämonisierung des Bösens keine Angriffs- und Verteidigungsfläche bieten würde, um es zu bekämpfen. Die Theorie, dass das Böse aus Banalität entsteht und durch diese besteht, gibt die Möglichkeit, gegen das Böse vorzugehen.

Das Böse muss in seinen Variationen analysiert werden. Es „[fordert] ein Verstehen der Verbrecher“ (SN,53), um weitere Taten zu verhindern. Das Erkennen, dass das Böse jeden erfassen kann, der seine Pluralität untergräbt, ist eine Erkenntnis, die viele Menschen nicht sehen wollen. Doch ohne dieses Eingestehen der eigenen möglichen Oberflächlichkeiten, die zu Abgründen führen würden, ist eine Wiederholung der Geschichte nicht zu vermeiden. Kann man sich an den Wenigen orientieren, die sich dem Naziregime widerstetzten? Was hat sie bewogen, nicht „so zu handeln wie alle Anderen“ (ÜdB,153)? Für sie sind „bestimmte moralische Sätze selbstverständlich“ (ÜdB,153), weil sie zuvor schon nicht in der Masse untergingen.

Sie verfügen „über genügende Standfestigkeit„, um sich „der Autorität wirksam entgegenzusetzen“ (ME,22). Die Ausnahmen sind allerdings „keineswegs die ‚Moralisten‘„, da sie meist „schon vor dem Debakel […] von der objektiven Nicht-Gültigkeit dieser Normen […]überzeugt gewesen waren“ (ÜdB,139). Sie waren die eigentlichen Revolutionäre und Rebellen noch bevor die Verbrechen des Dritten Reiches begangen worden sind. Wichtig ist daher vor allem eine „Auseinandersetzung mit dem extremen Bösen„, da dies bedeutet, das Denken und Urteilen wiederherzustellen und somit „die Wiederherstellung von Pluralität und Unterscheidungsfähigkeit“ (WH,24). Denn „nur wenn wir […] verstehen […] haben wir eine Chance“ (SN,46) zur Überwindung. Es braucht „Mut“ (ME,27), sich zu widersetzen.

Interessant beim Milgram-Experiment sind auch die Ergebnisse der Zugehörigkeit. So waren „Katholiken […] gehorsamer als Juden oder Protestanten. Menschen mit höherem Bildungsgrad waren stärker ungehorsam als solche mit niedrigem. […] Je länger jemand beim Militär gedient hatte, desto höher war seine Gehorsamkeitsbereitschaft – mit Ausnahme [ehemaliger] Offiziere“ (ME,234).

Dies lässt den Schluss zu, dass es verschiedene Merkmale gibt, die dazu befähigen, sich vor der Banalität des Bösen zu schützen: ein weniger konservativer Glaube, ein hohes Bildungsniveau, damit viele Alternativen zu einem präzisierten Urteil führen können. Des Weiteren so viel Freigeist wie möglich und die Abwendung von Institutionen, die Gehorsam von Untergebenen verlangen; sowie bestenfalls eine autonome Stellung. Wichtig wäre also weitestgehend freidenkend und selbstverantwortlich zu handeln und sich im Denken und Urteilen zu eigenen Entscheidungen hin zu üben, anstatt schlicht anzunehmen, was andere sagen, auch wenn das die Masse wäre.

Bibliographie Hannah Arendt

Primärliteratur

  • Arendt, HannahÜber das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik. 4. Auflage. übers. v.
    Ursula Ludz. hrsg. v. Jerome Kohn. Piper. München, Zürich 2010, zitiert mit der Sigle ÜdB, Seite

Sekundärliteratur

Bitte nicht wundern, dass die Sigle unterschiedlich sind. Alle, die aus der Regel fallen, waren Einzelfußnoten, die ich für die Page nur nachträglich noch eingefügt habe (bzw. dass die Sigle überhaupt hier auftauchen).

  • Arendt, HannahBesuch in Deutschland. übers. v. Eike Geisel. Rotbuch. Nördlingen 1993, zitiert mit der Sigle BiD, Seite
  • Arendt, Hannah, Gershom ScholemDer Briefwechsel. hrsg. v. Marie Luise Knott. Jüdischer Verlag im Suhrkamp. Berlin 2010, zitiert mit der Sigle Arendt/Scholem, Seite
  • Arendt, HannahDenktagebuch. 1950 bis 1973. Erster Band. hrsg. v. Ursula Ludz, Ingeborg Nordmann. Piper. München 2002, zitiert mit der Sigle Dtb1, Seite
  • Arendt, HannahDenktagebuch1950 bis 1973. Zweiter Band. hrsg. v. Ursula Ludz,
    Ingeborg Nordmann. Piper. München 2002, zitiert mit der Sigle Dtb2, Seite
  • Arendt, HannahEichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Piper.
    München 2011, zitiert mit der Sigle EiJ, Seite
  • Arendt, HannahIch will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk. hrsg. v. Ursula
    Ludz. Piper. München, Zürich 1996, zitiert mit der Sigle IWV, Seite
  • Arendt, HannahDas Urteilen. übers. v. Ursula Ludz. hrsg. v. Ronald Beiner. Piper. München, Zürich 1982, zitiert mit der Sigle Arendt/Urteilen, Seite
  • Arendt, HannahWeitergedacht. Ein Symposium. hrsg. v. Lothar Fritze. Vandenhoeck &
    Ruprecht. Göttingen 2008, zitiert mit der Sigle ES, Seite
  • Auer, ErnstDer Soldat zwischen Eid und Gewissen. Wilhelm Braumüller. Wien 1983, zitiert mit der Sigle EA bzw. Auer, Seite
  • Heuer, Wolfgang, Susan Neiman in: Das Böse neu denken. Hannah-Arendt-Lectures und
    Hannah-Arendt-Tage 2005
    . hrsg. v. Detlef Horster. Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2006, Neiman zitiert mit der Sigle SN, Seite; Heuer zitiert mit der Sigle WH, Seite
  • Milgram, Stanley: Das Milgram-Experiment. Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität.
    übers. v. Roland Fleissner. Rowohlt. Reinbek bei Hamburg 1982, zitiert mit der Sigle ME, Seite
  • PlatonPoliteia. Der Staat. übers. v. F. Schleiermacher, Frankfurt a.M., Leipzig, 1991, zitiert mit der Sigle resp, Stephanus-Paginierung
  • Wild, ThomasHannah Arendt. Leben Werk Wirkung. Suhrkamp. Frankfurt a.M. 2006, zitiert mit der Sigle LWW, Seite